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Diskussion: Grundton ist immer do

Von Kritikern der Solmisation wird moniert, dass die Solmisation die Dur/Moll-Tonalität, im weiteren Sinne die des ionischen Systems, festigt. Festigt im Vergleich zu atonaler Musik.
Bei den Handgesten kommt dies besonders zum Ausdruck, da sie bereits innerhalb des ionischen Systems die Tonarten Dur und Moll bevorzugen.
Aber: Die meisten von uns werden sich in der Praxis in Dur und Moll bewegen und daher die Dur/Moll-tonalität tatsächlich festigen und begreifen wollen.

Schon bei den anderen Tonarten des ionischen Systems, den Kirchentonarten, wird die Kritik nachvollziehbar und "greifbar", da hier die Handzeichen nicht immer passen. Beispiel: im Lydischen wäre Fa Grundton und Mi der nach oben strebende Leitton. Die Handzeichen spiegeln das so gar nicht wieder.
Gerade für die Kirchentonleitern gibt es aber einen interessanten alternativen Weg. Hierbei greift man zu einem Tirck und transponiert die Kirchentonarten so, dass durähnliche Kirchentonleitern immer mit do, mollähnliche immer mit la beginnen. Nachteil: Hier ist einiges an Zusatzwissen erforderlich und pro Tonleiter ist eine Alteration nötig. Siehe Kurs "Krichentonleitern notieren".
Um im Kirchengesangbuch zu singen, reicht der "klassische" Weg, den Sie in den Basiskursen kennenlernen.
Auch im Jazz ist der klassische Weg sinnvoll, bei dem jede Tonsilbe Grundton sein kann. Kurse hierzu habe sollten bald folgen.

Es gibt aber auch vereinzelt noch weitergehende Bestrebungen, die Solmisation zu überarbeiten bzw. zu erneuern. Warum sollte nicht "do" generell den Grundton markieren? Auch in Moll, wo bisher das "la" den Grundton anzeigt.
Wenn aber der Grundton immer "do" lautet, müssen die übrigen Tonsilben der Struktur der Tonalität angepasst werden. Das bedeutet, schon bei Moll müssen Alterationen eingeführt werden.
Damit wird meines Erachtens ein großer Vorteil der Solmisation verspielt: Die Internalisierung einer einzigen Struktur, in der bereits verschiedene Tonleitern angelegt sind und Alterationen nicht nötig sind.

In der Praxis bedeutet dies: Schlagen Sie ein Kirchengesangbuch auf, kommen Sie mit der "klassischen" Version der Solmisation wunderbar zurecht. Anhand der Vorzeichen identifizieren Sie die Tonsilben und können lossingen. Manche Lieder mögen seltsamerweise nicht auf do oder la enden. Ein Hinweis auf andere Tonalitäten des ionischen Systems, die Sie nicht kennen müssen. Singen können Sie diese trotzdem.

Wenn "do" aber immer der Grundton sein soll, müssen Sie sich erst noch klarmachen, um welche Tonart es sich handelt (und im Kirchengesangbuch beschränkt sich das nicht auf Dur oder Moll) um die Tonsilben entsprechend zu alterieren.
Ohne SMP- oder Diplom-Musikstudium knifflig.

Mein Tipp zu den Handgesten: Nutzen Sie die Handgesten in Dur und Moll, wo sie wunderbar passen, und wenn Sie so fit sind, dass Sie sich in anderen Tonalitäten bewegen können, brauchen Sie die Gesten sowieso nicht mehr und lassen sie einfach weg. Handgesten sind ein didaktisches Hilfsmittel besonders für Anfänger.

Das leidige Klavier

Auch die Tastenanordnung des Klavieres bevorzugt eindeutig die Tonalitäten des ionischen Systems. Gleiches gilt für unser Notensystem. Setzt man Noten in den Violinschlüssel, ganz ohne Vorzeichen ... schwupps ... ist man in C-Dur oder a-moll, eiderdaus.

Wer also die Bevorzugung der Tonalität innerhalb der Solmisation kritisiert, kann auch gleich das 5-Linien-Notensystem und die Tastenanordnung von Klavier, Cembalo, Akkordeon etc. verteufeln.

Warum überhaupt Tonalität kritisieren? Weil es ab dem Beginn des 20. Jhd. auch atonale Musik gibt. Schönberg, Stockhausen, Boulez. Um diese Musik vorurteilsfrei zu hören, stören die Kenntnisse tonaler Strukturen. Meinen zumindest Verfechter atonaler Musik. Dazu muss man wissen, dass ein Merkmal atonaler Musik die Vermeidung tonaler Strukturen ist. Ein Hörer der plötzlich ein "so-mi-do" erkennt, ist quasi ein Spielverderber.
Analog dazu könnte man sagen, dass die Fähigkeit zu Lesen die Rezeption von Werken des Dadaismus stören kann.

Man könnte auch beim Rad beklagen, dass es zur Mobilität neigt.
Eine Schaufel eindeutig das Graben dem Kehren vorzieht ...

Kurz: Die Solmisation ist DAS Werkzeug für tonale Strukturen, welche der Mensch auf diesem Planeten seit Jahrtausenden bevorzugt.
Für atonale Musik muss eben ein anderes Werkzeug her.

Symbolbildung

Im kleinen Büchlein Solmisation und tonale Didaktik: von Josef Karner, Books on Demand (3. Dezember 2008) Amazon

werden Vorschläge zur Umbenennung der Tonsilben gemacht. Gut durchdacht, keine Frage.

Warum überhaupt die Tonsilben umbenennen? Ganz einfach. Weil die sieben Tonsilben quasi durch Zufall entstanden sind. Sie folgen keiner inneren Logik sondern sind dan Anfangssilben eines lithurgischen Gesanges entnommen, siehe Johannes Hymnus: Nach diesem Hymnus wurden die Tonsilben benannt.

Die Tonsilben könnten doch auch klug durchdacht sein, so dass man schon an der Silbe erkennt, dass z.B. im Umfeld ein Halbtonschritt liegt, dass ein Ton ein Grundton ist etc.
Kurz: Das bereits der Name einen Hinweis auf den Inhalt, die Sache gibt. Dass sich die diatonische Struktur einer Tonleiter in den Namen der Tonsilben wiederspiegelt.

Ich weiß nicht mehr, aus welchem Forschungszweig der Begriff Symbolbildung stammt. Psychologie oder Sprachwissenschaft. Eines weiß ich aber noch. Es ist zum Verständnis einer Sache nicht nötig, dass sich der Inhalt, die Struktur der beteiligten Elemente auch in deren Namen wiederspiegelt. Vielmehr ist es so, dass sich das Wissen um die Struktur dieser Dinge mit den Namen verbindet ... Symbolbildung.

Einfaches Beispiel: Vater, Mutter, Kind im Gegensatz zu Vater, Mutter, Tochter. Die Begriffe selbst spiegeln nicht etwaige Verwandschaftsverhältnisse wieder.
Trotzdem wissen wir sofort, das Kind etwas anderes meint als Tochter.
Urgroßmitter, Großmutter, Mutter, Enkel, Großenkel. Hier ist ein Mischmasch. Mutter und Enkel hat wörtlich soviel miteinander zu tun wie Apfel und Birne. Wir wissen trotzdem, was gemeint ist.
Urgroßmutter, Großmutter, Mutter ... hier bringt bereits die Sprache eine gewisse Beziehung zum Ausdruck.
Ebenso bei Rängen im Militär: Feldwebel, Oberfeldwebel, Hauptfeldwebel. Hier ahnt man schon anhand der Sprache den Rang.
Hauptmann, Major, General, Oberst. Hier ist es schwieriger. Und dann gibt es noch den Generaloberst. Eieiei.

Wenn man weiß, um was es geht, ist eine zusätzliche Hilfe durch die Sprache nicht nötig. Da die Solmisation ein Training ist und die Struktur der Tonsilben untereinander durch Übung gefestigt werden, bekommen die Tonsilben ihre Bedeutung durch das Training. Sie bekommen ihre Bedeutung nicht durch den Namen.

Anders ausgedrückt. Die Solmisation funktioniert genauso gut oder schlecht, wenn die Silben Hund, Katze, Maus ... heißen würden. Okay, zum Singen vieleicht besser Hu, Ka, Ma ...

Die gute Nachricht für das kleine Büchlein: Es schadet auch nicht. Einziger Nachteil wäre, dass man in dem Momement Probleme bekommt, wenn man sich mit anderen zusammen austauschen möchte, die "traditionell" solmisieren. Das gleiche Problem hat jeder Japaner, der einen Amerikaner auf japanisch nach dem Weg fragt.