Lektion 4: Moll in der Praxis
In den vergangenen Lektionen haben wir gesehen, dass es aus harmonischen und melodischen Gründen zwei Alterationen (fi und si) geben kann.
Anders als bei den Kirchentonarten sind diese Alterationen nicht ständig vorhanden, sondern werden nur situationsbezogen eingesetzt. Statt sieben Töne umfasst der Tonraum Moll also neun.
Stufe | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 6 | 7 | 7 | 1 | Neun Töne aber trotzdem nur sieben Stufen(!) |
Tonsilbe | la | ti | do | re | mi | fa | fi | so | si | la |
Was bedeutet "situationsbezogen" einsetzen?
Es gilt:
- Auf den Stufen sechs und sieben kann jeweils eine der beiden Tonsilben zum Einsatz kommen.
- Führt eine Melodielinie aufwärts zum do, kann statt des natürlichen Verlaufs mi-fa-so-la der melodische Verlauf mi-fi-si-la verwendet werden.
- Führt eine Melodielinie abwärts vom do, wird der natürliche Verlauf la-so-fa-mi verwendet.
- Gibt es eine Durdominante, wird die Alteration si verwendet, bei einer Molldominante so.
- Wichtig: Es wird entweder die eine, oder die andere sechste/siebte Stufe verwendet, nicht beide.
Ausnahmen sind natürlich möglich, wie immer im Leben.
Wer als Instrumentalschüler jemals Molltonleitern spielen musste kennt das. Man spielt die natürliche Molltonleiter rauf und genauso wieder runter (anhören).
Fortgeschrittene spielen Moll melodisch rauf und natürlich runter. Das klingt so vertraut, dass man es als Zuhörer kaum merkt (anhören). Tatsächlich klingt es flüssiger als Natürlich Moll pur. Warum? Weil der Grundton "la" durch den Aufgang fi-si-la als Grundton und Endpunkt der Tonleiter deutlicher markiert ist. Beim Rückweg macht das "so" sofort klar, dass es abwärts geht. "si" hätte als Leitton eine hohe Affinität zum Grundton "la". Und mit fa-mi haben wir einen schönen Leitton abwärts zur fünften Stufe mi.
Durdominante: Die erhöhte siebte Stufe si ist in der Dominante die Terz und sorgt als Leitton zum Grundton für die erforderliche Spannung der Dominante.
Neben der Dominante gibt es aber noch zwei weitere Akkorde, in denen die siebte Stufe als Grundton und als Quinte vorkommt. Werden diese Nebenharmonien verwendet, wird die siebte Stufe so eingesetzt, da die Alteration nicht nötig ist. So taucht auch aus rein harmonischen Gründen in Mollstücken immer mal wieder die Alteration si an manchen Stellen auf, während an anderen Stellen so erscheint.
Schauen wir uns ein erstes und prominentes Beispiel an. Aus der e-moll Lauten-Suite (BWV 996) von Johann Sebastian Bach die Anfangstakte der Bourrée:
Das komplette Bourrée finden Sie auf YouTube, suche: bourree bach e-minor
Es gehört zur Standardliteratur der Klassischen Gitarre.
Bourrée in Natürlich Moll, Anfang anhören
Interessant dabei: Es klingt nicht falsch, nur anders. Es ist immer noch Moll, hat aber irgendwie eine andere Färbung, einen anderen Charakter. Ich selbst empfinde die Originalversion als flüssiger. Das kommt wohl daher, weil die Alterationen bereits etwas die Richtung vorgeben. Eine Erwartung wird geweckt und erfüllt, das macht den Melodieverlauf vorhersehbar und damit ... flüssiger.
Das so im ersten Takt gibt keine Richtung vor. Statt zum la könnte es auch nach unten zum fa gehen.
Im Original sagt das si: Achtung, jetzt kommt das la; die Erwartung wird geweckt, Spannung. Und das la kommt dann auch und die Erwartung wird erfüllt, Entspannung.
Der ständige Wechsel von Spannung und Entspannung ist ein charakteristisches Merkmal der abendländischen Musikkultur. Hier sehen wir es auf kleinstem Raum arbeiten.
Wir sehen: Da es im Tonraum Moll mehr Töne gibt, gibt es in Moll vielfältigere Gestaltungsmöglichkeiten.
Auf der vierten und fünften Stufe können statt Moll auch Durakkorde stehen. Auch harmonisch bietet Moll mehr Möglichkeiten. Das ist ein Vorteil von Moll.
Der Nachteil wurde bereits angesprochen. Durch die Veränderungen wird der Mollcharakter verwässert und "duriger".
Hier nochmal ein Vergleich von Dur, Melodisch und Natürlich Moll. Damit wir die Tonleitern auch gut vergleichen können, starten sie alle mit der Tonsilbe do, die nötigen Alterationen sind hervorgehoben.
Stufe | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | Zahl der Alterationen |
Dur | do | re | mi | fa | so | la | ti | do | 0 |
Mel. Moll | do | re | mu | fa | so | la | ti | do | 1 |
Nat. Moll | do | re | mu | fa | so | lu | tu | do | 3 |
Damit möchte ich folgendes zeigen:
Dur und Natürlich Moll unterscheiden sich in drei Tonsilben. Ein großer Unterschied.
Zum Vergleich. Bei den Kirchentonarten gibt es immer nur eine Alteration im Vergleich zu Dur oder Moll. Ein kleiner Unterschied.
Und so ist es dann auch bei Melodisch Moll. Es unterscheidet sich nur noch in einem Ton von Dur.
Anders ausgedrückt: Bei Natürlich Moll merkt man an drei von sieben Tönen, dass man nicht in Dur ist, sondern in Moll. Bei melodisch Moll nur noch an einem.
Deshalb ist es in Moll so wichtig, die Alterationen nur dann einzusetzen, wenn sie wirklich benötigt werden.
E N D E